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  1. Reportage
  2. Die Chance nutzen

Die Chance nutzen - Ausbildung zum Fachinformatiker Systemintegration für Menschen mit Autismus

Timo hat das Netzwerkkabel quer über den Gang gespannt. Die anderen Auszubildenden müssen sich bücken, um zu ihren Computern im hinteren Arbeitsraum zu gelangen. Aber das ist Timo gerade egal. Der 22-Jährige mit Lippenpiercing, schwarzer Hose, schwarzem Pulli und Flaum an den Wangen ist froh, Strom zu haben für seinen Rechner. Der steht am Rand des „Tüfteltisches“. So nennen die jungen Erwachsenen, die sich im CJD Berufsbildungswerk Dortmund zum Fachinformatiker Systemintegration ausbilden lassen, die raumgroße Arbeitsplatte mit Prozessoren, Bildschirmen und jeder Menge Kabeln.

 

Die Prüfungen stehen an


Doch selbst mit dem Datenkabel scheint irgendetwas schief zu laufen. „Warum geht das Internet jetzt nicht mehr?“, fragt sich Timo, rauft sich die gelockten Haare. Gerade betritt Ausbilder Torsten Kahle den Raum. „Das hier geht aber nicht“, sagt er mit gerunzelten Augenbrauen, deutet auf das quergespannte Kabel. „Drüben war die einzige freie Steckdose“, murmelt Timo abwesend, schreckt auf: „Bloß nicht rausziehen!“ Torsten Kahle grinst. Der Stresspegel  bei den 13 Auszubildenden im dritten Lehrjahr steigt, seit die „Prüfungsphase“ begonnen hat: Es gilt, eigene digitale Projekte zu entwickeln, um sie in der Abschlussprüfung vor der Industrie- und Handelskammer vorzustellen.

Timo arbeitet an einem Projekt, mit dessen Hilfe sich ein internes und ein offenes Computer-Netzwerk miteinander verbinden lassen. Schon als Kind hat er am Computer seiner Oma getüftelt – und sich immer für das Programmieren interessiert. Die Agentur für Arbeit hat ihn nach der Schule ins CJD Berufsbildungswerk Dortmund vermittelt. Die Ausbildung zum Fachinformatiker ist eine Chance, die er anderswo kaum bekommen hätte. Denn Timo ist ein Mensch mit Asperger-Syndrom, landläufig Autismus genannt. Über diese Entwicklungsstörung existieren viele Klischees. Filme wie „Rain Man“ lassen Menschen mit Autismus als hochintelligente, aber emotionslose Wesen erscheinen. „Dabei haben sie oft nur Schwierigkeiten, eigene Gefühle zum Ausdruck zu bringen“, sagt Mechtild Ronge, Leiterin des CJD Berufsbildungswerks Dortmund. Das Spektrum sei breit - mit fließenden Übergängen.

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Zwei Auszubildende betrachten einen aufgeschraubten Computer
Die Azubis bereiten ihre Projekte für die Abschlussprüfung vor.

Diagnose „Autismus“ erst mit 18 Jahren


Timo verdankt die Diagnose seiner Schwester. Während ihrer Ausbildung zur Erzieherin musste sie die Symptome von Autismus lernen. Dazu zählt unter anderem, dass Menschen Körperkontakt meiden und leicht abgelenkt sind. „Ich glaub‘, ich weiß, was mit dir los ist“, hat sie zu Timo gesagt. Wenig später bestätigen die Ärzte ihren Verdacht. Timo war da knapp 18 Jahre alt. Den meisten „Aspis“ fällt der Umgang mit anderen Menschen und der Aufbau von Beziehungen schwer. Andererseits können sie gut analysieren und sortieren. Für die Informatik wichtige Fähigkeiten.

Seit 2010 ist das CJD Berufsbildungswerk als Kompetenzzentrum „Autismus und Berufsbildung“ anerkannt. 2014 startete es die Ausbildung zum Fachinformatiker Systemintegration mit vier Plätzen. Inzwischen sind es 36, davon allein 19 Plätze für das erste Lehrjahr. „Für Menschen mit Asperger Autismus ist grundsätzlich kein Beruf ausgeschlossen“, sagt Mechtild Ronge. „Aber ihre speziellen Bedürfnisse müssen berücksichtigt werden.“ So sind die Räume für die angehenden Fachinformatiker ruhig gelegen, die Fenster mit matter Folie verklebt. Die Welt draußen dringt nur schemenhaft und das Licht weich herein. Bewegungen, Unordnung und Lärm würden die Auszubildenden ablenken. Die Lerneinheiten werden öfter wiederholt, Psychologen und Sozialpädagogen begleiten die jungen Erwachsenen - auch mit Trainings, in denen sie lernen, Gestik und Mimik zu interpretieren. Wenn es zum Praktikum in einen Betrieb außerhalb geht, kommt der CJD Ausbilder anfangs mit und hilft bei der Einarbeitung. Die Betriebe haben telefonisch immer einen Ansprechpartner.

Timo ist froh über die Ausbildung im CJD. „Hier muss ich mich nicht verstecken“, sagt er. „Wenn einer seine fünf Minuten hat, ist das normal. Er geht raus, beruhigt sich, dann kommt er wieder. Und keiner macht ihn deswegen runter.“

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Auszubildende lernt für die Prüfung an ihrem Schreibtisch
Maren ist sehr präzise und konzentriert bei der Arbeit

"Mir gefällt es hier in der Gruppe"


Wie Timo bereitet sich auch Maren auf ihre Abschlussprüfung vor. Die 27-Jährige sitzt im ruhigen, hinteren Arbeitsraum, das helle, schmale Gesicht konzentriert auf den Bildschirm gerichtet. Torsten Kahle beschreibt sie als präzise, immer eine der schnellsten – und als fürsorglich: Sie fülle das Druckerpapier auf, bringe allen Kekse mit. Ihr Prüfungsprojekt ist ein computergestütztes Analysesystem. Sie erklärt es stockend, hält sich dabei mit den Augen am Bildschirm fest, ihr langer Pferdeschwanz wippt hektisch. So sehr ihre Worte ahnen lassen, dass sie genau weiß, was sie tut, so schwierig ist es, ihr zu folgen: Vor Menschen zu reden, verunsichert sie, ebenso jemandem in die Augen zu schauen. Deswegen ist sie beim ersten Versuch vor der Handwerkskammer durchgefallen. „Mir gefällt es hier in der Gruppe“, sagt sie. „Aber ich bin auch froh, wenn ich die Ausbildung endlich hinter mir habe.“ Im Alter von 15 Jahren wurde bei ihr das Asperger-Syndrom diagnostiziert. Wie Timo war auch sie erleichtert zu wissen, woran sie ist. Die Suche nach einer geeigneten Beschäftigung war trotzdem schwierig. Den Ausbildungsplatz im CJD Dortmund fand sie auf einer Integrationsmesse.

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Ausbilder lehnt sich auf seinen Tisch und blickt zur Klasse
Maren ist sehr präzise und konzentriert bei der Arbeit

Unterrichtet werden die jungen Erwachsenen von Thorsten Kahle und zwei weiteren Informatikern. Sie schätzen die Neugier der Auszubildenden, ihre teilweise anspruchsvollen Fragen. „Antworten hab‘ ich nicht immer sofort parat“, sagt Kahle. „Die sind enorm fit. Das macht Spaß!“ Zu den Ausprägungen von Autismus gehört aber auch, dass ein ungelöstes Problem alles blockiert. „Das kann u.a. auch meine neue blaue Jacke sein, die jemanden irritiert“, sagt er. „Erst wenn ich ihm eine Erklärung gebe, kann es weitergehen. Autisten brauchen klare Ansagen.“

Den Ausbildern ist es wichtig, dass Timo, Maren und die anderen jungen Erwachsenen am Ende ihrer Zeit in Dortmund so fit sind, dass sie einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt finden. Daher stand nie außer Frage, dass sie Praktika in anderen Betrieben absolvieren. Und auch wenn Maren ihre mündliche Prüfung in einem ruhigen, geschlossenen Raum vor wenigen Menschen ablegen und einen Betreuer dabei haben darf – die fachlichen Anforderungen in der Abschlussprüfung sind die gleichen.

„Die Digitalisierung wird die Arbeitswelt verändern“, sagt Mechtild Ronge. Die Veränderungen würden für Menschen mit Behinderungen Chancen und Risiken bergen. „Für uns als Berufsbildungswerk eine besondere Herausforderung.“ Junge Autisten wie Timo und Maren aber – davon ist sie überzeugt – werden ihre Chance nutzen.

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