Ein Spaßvogel im Rollstuhl
Dritte Stunde, Physik, Klasse 10. Der Lehrer sucht einen Freiwilligen, der an der Tafel folgende Aufgabe löst: Welchen Weg legt die Spitze eines sieben Meter langen Hubschrauberrotors zurück, der sich mit der Frequenz von einem Hertz dreht?
Zwei Dutzend Schüler vermeiden den Blickkontakt zum Lehrer. Suchen den Boden ab. Schauen aus dem Fenster, in den Hof mit den schneebedeckten Tischtennisplatten. In der letzten Reihe muss einer niesen. Da ruft ein anderer von ganz vorn betont munter durch den Physiksaal: „Gsundheit!“
Jede Klasse hat ihren Spaßvogel. Dieser heißt Nikolai Sommer. Der junge Mann mit dem dunkelblonden Flaum im Gesicht grinst breit, genießt die Lacher seiner Mitschüler. Der 17-Jährige ist in seinem Element, in seiner Klasse, in seiner Welt. Die größten Talente im deutschen Wintersport drücken in der CJD Christophorusschule Berchtesgaden die Schulbank. Mitten unter ihnen sitzt Nikolai Sommer – im Rollstuhl.
Seit einem schweren Sturz am 11. Mai 2017 ist der ehemalige Skifahrer von der Hüfte ab gelähmt. Vorbei die Zeit, als er der weltweiten Konkurrenz in seiner Altersklasse davonfuhr. Vorbei die Zeit, als er den Rennanzug des Deutschen Skiverbands trug.
Er hätte der Welt des Leistungssports nach dem Unfall den Rücken kehren können, zumindest Abstand schaffen. Aber fünf Monate nach seinem Unfall saß er wieder im Klassenzimmer. Weil Nikolai Sommer Nikolai Sommer ist – und weil das CJD niemanden verloren gibt. Dafür sorgen Menschen wie Stefan Kantsperger, Niklas Illig und Christian Scholz. Auch von ihnen handelt diese Geschichte.
„Gleich nach dem Sturz hab ich gemerkt, dass etwas nicht stimmt“
Nikolai Sommer stammt aus Kirchanschöring, einem Dorf in Bayern, das näher bei Salzburg als bei München liegt. „I hob das Skifahrn recht spät glernt“, erzählt Nikolai, „erst mit sechs“. Er ging bei Rennen an den Start, die schnellen Disziplinen reizten ihn. Als Abfahrer schaffte er es in den bayerischen Landeskader. Im Super-G, dem Super-Riesenslalom, brachte er es in der Weltrangliste seiner Altersklasse auf den zweiten Platz.
Im Mai 2017 fuhr er nach Tirol, zu einem Lehrgang des Landeskaders auf dem Kaunertaler Gletscher. Der Unfall, der sein Leben verändert hat, ereignete sich in einer eigentlich harmlosen Situation, wie sie jeder Skiurlauber erleben kann. Es waren keine Tore gesteckt, beim freien Fahren bolzte Nikolai über eine Piste mit vielen Wellen. Wenn er schnell genug wäre, könnte er abheben, dachte er. Aber schon beim ersten Sprung verlor er die Kontrolle, landete auf dem Rücken. Ein Rettungshubschrauber brachte ihn nach Innsbruck.
„Gleich nach dem Sturz hab ich gemerkt, dass etwas nicht stimmt“, erinnert sich Nikolai. Er spricht mit klarer Stimme. Will kein Mitleid. Erzählt von den drei verschiedenen Röhren, in denen er untersucht wurde, den anschließenden Operationen, weiteren Klinikaufenthalten. Und von dem Wunsch, wieder auf die Christophorusschule zu gehen. „Das war für mich schnell klar“, sagt er. „Weil’s mit den Leuten hier Spaß macht.“
Auch Maria Höfl-Riesch, Evi Sachenbacher-Stehle, Andreas Wellinger und Georg Hackl gingen im CJD zur Schule
Die Christophorusschule liegt auf knapp 1.200 Meter Meereshöhe in den Bayerischen Alpen. Sie wurde 1953 vom Christlichen Jugenddorfwerk Deutschland (CJD) gegründet. Direkt neben den Klassenzimmern gibt es einen Skilift. 1971 ließ sich die Schule auf ein Wagnis ein: Sie nahm zehn Gymnasiasten auf, die im A-Kader des Deutschen Skiverbands gefördert wurden. Wenn Trainingslager oder Wettkämpfe anstanden, bekamen diese Schüler frei. Bald war vom Skigymnasium die Rede.
Inzwischen gehört es zu den erfolgreichsten Eliteschulen des deutschen Sports. Rund hundert Wintersportler nehmen dort die Doppelbelastung von Hochleistungssport und Abitur auf sich: alpine und nordische Skiläufer, Rodler und Skeletonfahrer, Eisschnellläufer und Biathleten, Snowboarder und Freestyler. Alle sind von ihren Sportverbänden als förderungswürdig eingestuft worden. Zu den bekanntesten Absolventen der Christophorusschule gehören die Olympiasieger Maria Höfl-Riesch und Evi Sachenbacher-Stehle, Andreas Wellinger und Georg Hackl.
„Wir haben schnell entschieden: Wenn er will, darf er bis zum Abitur bei uns bleiben.“
Wenn Stefan Kantsperger aus dem Fenster seines Büros schaut, sieht er Deutschlands schönsten Berg, den Watzmann. Seit sieben Jahren leitet er die Christophorusschule. Er ist 56 Jahre alt, unterrichtet Englisch und Geschichte. Sportverletzungen seiner Schüler sind für ihn nicht ungewöhnlich. In der Pause ist ihm ein Teenager mit einer Orthese begegnet: Die Bänder am Knie sind gerissen. Doch der Unfall von Nikolai Sommer, sagt er, sei der schlimmste seiner bisherigen Amtszeit gewesen.
Kantsperger neigt nicht zu pädagogischem Geschwafel, er schätzt es geradeheraus. Als Nikolai in der Klinik lag, habe er ihn angerufen, sagt er. „Vor dem Telefonat hatte ich schon etwas Bammel.“ Er fragte seinen Schüler, wie es ihm gehe, und war über die bayerisch-knappe Antwort verblüfft: „Sehr gut, Herr Kantsperger!“
Der Schulleiter beriet sich im Kollegium, wie mit diesem schwerverletzten Schüler umzugehen sei, der auf einmal kein förderungswürdiger Nachwuchssportler mehr war. „Wir haben schnell entschieden: Wenn er will, darf er bis zum Abitur bei uns bleiben.“ Nikolai wollte. Während er in einer Spezialklinik lag, haben zwei Lehrerinnen mit ihm den versäumten Stoff nachgearbeitet. „Zwölf Seiten Spanisch-Vokabeln“, sagt er und seufzt.
Diese Hilfsbereitschaft hätte dem heiligen Christophorus gefallen, der als geschnitzte Statue im Foyer der Schule steht. Weil auch er jemand war, der Schwächere durch schwierige Situationen trug. Der schwäbische Pfarrer Arnold Dannenmann, der nach dem Zweiten Weltkrieg das Christliche Jugenddorfwerk gegründet hat, hat diesen Anspruch so formuliert: „Keiner darf verloren gehen!“ Stefan Kantsperger sagt es so: Nikolai Sommer solle als ganz normaler Schüler Abitur machen. „Und sich als Persönlichkeit weiterentwickeln, die mit der Behinderung gut umgehen kann.“
Wenn die Karriere endet, zeigt sich der Wert einer vernünftigen schulischen Ausbildung
Persönlichkeitsförderung ist dem Pädagogen wichtig. Das CJD orientiert sich an den Werten des christlichen Glaubens. Der selbstgestellte Auftrag besteht darin, über die reine Wissensvermittlung hinaus den ganzen Menschen mit Leib, Seele und Geist in den Blick zu nehmen. „Im Mittelpunkt stehen die Bildung und Entfaltung einer starken Persönlichkeit“, sagt Kantsberger. Auch Spitzensportler bräuchten sie – spätestens wenn die Karriere ende. Dann zeige sich auch der Wert einer vernünftigen schulischen Ausbildung.
Nikolai Sommer soll sie bekommen – an seiner vertrauten Schule in Berchtesgaden. Im Internat lebt er jetzt nicht mehr wie seine Mitschüler im Doppelzimmer. Er bewohnt ein kleines Appartement mit Kochnische, Dusche und WC. Für Leistungssportler in seiner Altersgruppe kostet ein Internatsplatz etwa 550 Euro im Monat. Derzeit bemüht sich die Schulleitung, für Nikolai eine individuelle Lösung zu finden.
Auch an Treppen und ähnlichen Hindernissen soll sein Aufenthalt nicht scheitern: „Wir hatten schon länger geplant, die Schule und das Internat barrierefrei einzurichten“, sagt Stefan Kantsperger, „durch den Fall von Nikolai wird das jetzt beschleunigt“. Für einen Aufzug, Rampen und behindertengerechte Toiletten im alten Internatsgebäude kalkuliert er etwa 160.000 Euro. Die Mittel stammen von Schülern und Freunden der Schule, aber auch von Prominenten, denen Nikolais Schicksal am Herzen liegt.
„Ich will wieder in den Rennlauf einsteigen“
Der Unterricht ist für heute zu Ende. Am Nachmittag will Nikolai Krafttraining machen. Sein Klassenkamerad Niklas Illig schiebt ihn im Rollstuhl zur Sporthalle, quer über den Skihang. Niklas ist ein Jahr jünger als Nikolai und seit 2016 an der Christophorusschule. Auch er stammt aus einer skibegeisterten Familie. Beide haben vor dem Unfall das Zimmer geteilt. Nikolai frotzelt aus dem Rollstuhl: „Gell, das war schon nicht schlecht, dass du plötzlich ein Einzelzimmer hattest.“ Niklas grinst. Als Nikolai noch in der Spezialklinik lag, war er mit seinen Mitschülern dort. Die Schule hatte einen Bus organisiert. Er hat Nikolai auch zu Hause besucht. „Weißt du noch, unser Monopoli-Abend bei dir?“ Er hat sich mit Nikolai gefreut, als der im Rollstuhl erstmals wieder in die Klasse kam – und seine Mitschüler ihn begeistert empfingen.
Niklas trägt die Jacke des Deutschen Skiverbands. In der kommenden Woche fährt er nach Schweden, dort tritt er im Skicross an. Nikolai findet das cool. Auch im Rollstuhl teilt er mit seinem Kumpel die Begeisterung für den Sport. Um den Oberkörper zu trainieren, werfen sich die beiden im Kraftraum einen Medizinball zu. Vor Anstrengung bläst Nikolai die Backen auf. „Ich kann eigentlich alles machen – außer Fußball“, sagt er. Anfang des Jahres hat er sich zum Rollstuhlbasketball angemeldet, hat sich das Fahren mit dem Monoski beibringen lassen. Das ist eine Art Snowboard, auf dem ein Sitz montiert ist. Statt Skistöcken hält der Fahrer Unterarmstützen in den Händen, die am unteren Ende mit kleinen Skiern ausgerüstet sind. Eine Woche war Nikolai im Schnee – „da hab ich erst gemerkt, wie sehr die Ski mir fehlen“. Der ehemalige Spitzensportler wurde wieder zum Anfänger, der einfach eine Fahrt ohne Sturz überstehen wollte. „Das habe ich geschafft“, sagt er stolz. „Ich will wieder in den Rennlauf einsteigen.“
„Ich hätte vorher nicht gedacht, dass auch mit dieser Behinderung Freude, Glück und Erfüllung im Leben möglich sind.“
Wenn ein Skirennläufer zum Training nach Skandinavien fährt – wie holt er den Stoff in Mathe nach? Braucht er die Hilfe eines Fachlehrers oder schafft er es allein? Mit solchen Fragen beschäftigt sich Christian Scholz, Fachkoordinator Sport der Christophorusschulen. Er ist Mitte fünfzig, hat ein hageres Gesicht und freundliche Augen. An seine Bürotür hat er einen Spruch geklebt: „Da es sehr förderlich für die Gesundheit ist, habe ich beschlossen, glücklich zu sein.“ Man könnte das als billige Weisheit aus dem Glückskeks abtun. Aber wenn man sieht, wie er mühsam vom Stuhl aufsteht und in Zeitlupe einen Schritt vor den anderen setzt, bekommt dieses Motto eine andere Bedeutung.
Christian Scholz hat ein ähnliches Schicksal zu verkraften wie Nikolai Sommer: Er stürzte beim Rennradfahren schwer. Seitdem kämpft er mit Lähmungserscheinungen. „Ich hätte vorher nicht gedacht, dass auch mit dieser Behinderung Freude, Glück und Erfüllung im Leben möglich sind.“
Scholz hat Nikolai in der Klinik besucht. Hat mit ihm über seine schulischen und sportlichen Perspektiven gesprochen. Hat ihn vorzubereiten versucht auf Phasen der Trauer, die kommen werden. „Man schafft es nicht in einem halben Jahr, ein solches Schicksal anzunehmen“, ist er überzeugt. „Das braucht zwei bis fünf Jahre.“ Es ist ein Glück für Nikolai, dass er an der Schule diesen Begleiter hat. Für alles, was noch kommt.
„Ich muss unbedingt noch einmal durch die Wellenbahn, dann hab ich’s geschafft“
In zwei Jahren will Nikolai Sommer Abitur machen. Und dann? Vielleicht Eventmanager werden, sagt er. Diesen Beruf findet er cool. Ein anderes Ziel jedoch hat er klar vor Augen. Wenn er mit dem Monoski genug geübt hat, will er noch einmal auf den Kaunertaler Gletscher. Zurück an den Ort, an dem sein Unfall passiert ist. „Ich muss unbedingt noch einmal durch die Wellenbahn“, sagt Nikolai, „dann hab ich’s geschafft.“