Eine Kombination aus Betrieb und Schule
Noch eine Stunde bis zur Mittagspause. Zeit genug, um mit dem Fledermauskasten zu beginnen. Fabian rückt die schwarze Mütze tiefer in die Stirn, sein Blick forscht nach dem passenden Werkzeug. Entschlossen greift er nach der Fräse und lässt sie Rillen in das Brett ziehen, an denen sich die Tiere später festkrallen sollen. „Halt, stopp!“, unterbricht ihn Ferdinand Schwarz. „Nicht ziehen, du musst die Fräse immer schieben!“ Er ist der Werkstattpädagoge, sein Meisterbrief hängt gerahmt an der Wand. „Stimmt, alles klar.“ Fabian korrigiert die Richtung.
Seit eineinhalb Jahren lernt und arbeitet der 18-Jährige in der CJD Produktionsschule Waren an der Müritz. „CJD“ steht für „Christliches Jugenddorfwerk Deutschlands“. Es ist eines der größten Bildungs- und Sozialunternehmen in Deutschland und auch in der beruflichen Bildung tätig. Die Einrichtung im mecklenburgischen Waren (Müritz) kombiniert Betrieb und Schule – ein besonderes Angebot für Jugendliche, die sich mit Schule allein schwertun würden.
Die praktische Arbeit ist für die Jugendlichen ein hilfreicher Ausgleich
Nur am Donnerstag und Freitag lernt Fabian dort für den Hauptschulabschluss. Die übrigen Tage verbringt er in der Holzwerkstatt, bei Zimmermeister Schwarz. Den schätzt er. Und erweist sich als Musterschüler: In allen neun Kriterien, die auf der „Kompetenztafel“ an der Werkstattwand bewertet sind, hat er sich bestens bewährt – von der Pünktlichkeit über die Teamfähigkeit bis hin zu den Umgangsformen.
Fabian ist freiwillig hier, wie er betont. Sein Bruder hatte ihm geraten, sich nach dem Besuch der Förderschule noch um den Hauptschulabschluss zu bemühen. Den schaffen an der Produktionsschule neun von zehn Schülern. Sein Mitschüler Hermann hingegen wäre lieber nicht nach Waren gekommen. 125 Kilometer sind es bis nach Hause, er wohnt nun bei seiner Schwester im Ort. Aber Hermann hatte Probleme in der Schule. Faul sei er gewesen und deshalb in der 8. Klasse sitzengeblieben, sagt er. „Ich habe auch ab und zu gestört, war zu aggressiv.“ Inzwischen ist das anders. „Hier bin ich noch nicht so ausgerastet wie an der anderen Schule.“ Die praktische Arbeit tut ihm gut.
Schüler erleben, dass ihre Arbeit einen Wert hat
In sechs unterschiedlichen Werkstätten ermöglicht die Produktionsschule 60 Jugendlichen erste Erfahrungen mit dem Arbeitsleben – unter realen Bedingungen, mit echten Kunden, die man zufriedenstellen muss. Was die Schüler herstellen, wird verkauft. An Aufträgen mangelt es nicht. Soeben ist die letzte von zehn Holzbänken fertig geworden, die der örtliche Golfclub bestellt hat. Gemeinsam mit den Jugendlichen wird Ferdinand Schwarz die Bänke später zum Club-Gelände bringen. Wenn sie nicht akkurat gearbeitet haben, riskieren die Schüler, dass der Kunde die Lieferung reklamiert.
Eine Liste am Schwarzen Brett gibt Auskunft, wie viel Umsatz jede Werkstatt bislang gemacht hat. Sie wird fortlaufend aktualisiert. „Unsere Schüler sollen erfahren, dass ihre Arbeit einen Wert hat“, sagt Schulleiter Holger Kiehn. Das mache den Unterschied aus zu herkömmlichen Programmen zur Berufsvorbereitung, die manche Kritiker als „Beschäftigungstherapie“ abtun. In der CJD Einrichtung stärken das Lob der Kunden und ihr Lohn für gelungene Arbeit das oft lädierte Selbstwertgefühl der Schüler. Und bei manchen, sagt der Schulleiter, fache es sogar den Ehrgeiz an. So wie bei Fabian.
CJD importierte Produktionsschulen erfolgreich aus Dänemark
Rund zwanzig Jahre ist es her, dass Holger Kiehn das Konzept der Produktionsschule in Dänemark kennenlernte. Der Sozialpädagoge überzeugte das CJD, es auf Deutschland zu übertragen und im Jahr 2000 in Waren zu starten. „Wir waren eine der ersten Produktionsschulen in Deutschland“, sagt Kiehn. Inzwischen hat das CJD das Konzept auch an anderen Orten umgesetzt: Etwa fünfzehn Produktionsschulen gibt es heute im CJD.
Was genau die Werkstätten produzieren, wird mit der örtlichen Wirtschaft abgestimmt: Sie stellt den Schulbeirat. Es soll schließlich keine Konkurrenz zu den Betrieben entstehen, deren Kooperation man für Praktika und Lehrstellen braucht. Zwei von drei Schülerinnen und Schülern erhalten anschließend einen Ausbildungsplatz.
In der Küche kann Jasmin viel lernen
Während Fabian und seine Mitschüler in der Holzwerkstatt sägen und schmirgeln, bereitet Jasmins Team in der Küche das Mittagessen vor. Heute soll es Rotbarsch auf Wirsing geben. Die 17-jährige Jasmin stemmt sich beidhändig auf das große Messer, halbiert den Kohl, viertelt ihn, schneidet konzentriert den Strunk heraus. „Jetzt musst du den Kohl quer in schmale Streifen schneiden“, sagt Karin Pagels, Küchenchefin und Werkstattpädagogin. Akkurat folgt Jasmin den Anweisungen, verteilt den Wirsing auf großen Backblechen, bettet die Fischfilets darauf. Ein Lächeln huscht über ihr meist ernstes Gesicht. Sie ist mit sich und ihrer Arbeit zufrieden.
Ihr Team bereitet täglich das Frühstück und das Mittagessen für die Schulkantine zu. Ab und zu werden sie beauftragt, das Catering bei Feiern und Veranstaltungen in Waren zu übernehmen. „Kochen macht Spaß“, sagt Jasmin. Ihre Mutter habe früher in einer Kneipe gearbeitet, da habe sie ihr abends immer in der Küche geholfen. „Aber hier habe ich noch viel mehr gelernt: Wie man Fisch kocht, wie man Soße macht ...“
Jasmin zählt zu den wenigen Schülerinnen und Schülern, die bereits den Hauptschulabschluss haben. „Sie ist sehr wissbegierig, vorausschauend und sagt offen ihre Meinung, das finde ich gut“, sagt Karin Pagels. Doch irgendwie hatte es das Mädchen versäumt, sich rechtzeitig um einen Ausbildungsplatz zu kümmern. Weil Minderjährige nicht ohne Beschäftigung bleiben sollen, schickte das Jobcenter sie zur Produktionsschule. Noch mal zur Schule? Ein Alptraum, dachte Jasmin damals. „In meiner letzten Schule wurde ich gemobbt und immer nur angeschrien“, erinnert sie sich. In der Produktionsschule macht sie andere Erfahrungen: „Hier gehen die Lehrer ordentlich mit uns um, sie sind sehr hilfsbereit und nett“.
In der Kantine kommen alle zusammen
Um ein Uhr mittags füllt sich der lichtdurchflutete Kantinenraum. Das Küchenteam hat bereits den Tisch gedeckt, Jasmin und Bianka ziehen das Rollo vor der Essensausgabe hoch. Die Jungs aus der „Forst und Fischerei“-Werkstatt, die heute Vormittag Bäume gefällt haben, haben ordentlich Hunger mitgebracht. Ebenso Vasilii und Pascale aus der Landwirtschafts-Werkstatt. Sie haben die 23 Schafe der Produktionsschule gehütet. Die anderen aus ihrem Team haben sich um die Kräuterzucht gekümmert, die an die örtliche Gastronomie liefert.
„Die Teilnahme am Mittagessen ist für alle Pflicht“, sagt Schulleiter Holger Kiehn. „So haben wir die Gelegenheit, zusammenzusitzen und zu reden.“ Die Leiterinnen und Leiter der Werkstätten nehmen gemeinsam mit ihren Schülerinnen und Schülern Platz. Die Gespräche drehen sich um Alltagsdinge, die Freunde oder das Elternhaus. Aber manchmal auch darum, was nach der Schule kommen soll.
Der Mut, die nächsten Schritte zu wagen
Fabian zum Beispiel will zur Berufsfeuerwehr. Dafür braucht er allerdings einen Handwerksberuf. Am besten in einer Kfz-Werkstatt wie der, in der er in der kommenden Woche ein Praktikum macht. Vielleicht kann er den Chef ja von sich überzeugen. „Ich arbeite gern mit Autos“, sagt er. „Ich helfe meinem Stiefvater immer, wenn unser Wagen kaputt ist.“
Auch Jasmin weiß inzwischen, was sie werden möchte. Nach Praktika als Verkäuferin und im Kindergarten hat sie beim dritten Versuch unerwartet Feuer gefangen: „Da war ich im Kuhstall. Jetzt möchte ich unbedingt Tierwirtin werden.“ Den Stall auszumisten, die Maschinen zu reinigen und – vor allem – die Kälber zu füttern, hat ihr richtig Spaß gemacht. Nun schickt sie Bewerbungen los. Eine Mitarbeiterin der Schule, die für die Berufsorientierung zuständig ist, unterstützt sie dabei.
Für die Ausbildung muss sie dann wohl ihr Heimatdorf Wildkuhl verlassen. Das hätte sie noch vor einem Jahr nicht gewagt, sagt sie. An ihrer alten Schule sei sie sehr still gewesen, habe immer den Mund gehalten. „Inzwischen rede ich mehr, traue mir mehr zu.“ Sie überlegt einen Moment. „Ich habe mich hier sehr verändert.“