Hier wird in verschiedenen Sprachen gezählt
Wie viele Kinder sind an diesem Morgen da? Die Mädchen und Jungen in der Dino-Gruppe der Hans-Georg-Karg-Kita in Nürnberg wollen es genau wissen: Sie zählen ab - wie jeden Morgen in verschiedenen Sprachen. Zunächst auf Deutsch, dann auf Italienisch, Türkisch und Vietnamesisch. Als Letztes fragt die Erzieherin, ob jemand auf Russisch zählen möchte. Erol (5), der bisher still auf seinem Stuhl saß, hebt vorsichtig die Hand. Er steht auf, doch schon vor der ersten Zahl verlässt ihn der Mut, und er beginnt zu weinen. Doch keines der Kinder lacht ihn aus. Im Gegenteil. Amelie (6), ein aufgewecktes Mädchen mit silberfarbenem Rock und gepunkteter Strumpfhose, steht auf, nimmt ihn bei der Hand, läuft mit ihm den Kreis ab und hilft ihm beim Zählen: „Adin, Twa, Tri ..."
Hochbegabte Kinder sollen nicht isoliert aufwachsen
Vor allem wegen Kindern wie Amelie gibt es die Hans-Georg-Karg-Kita: Amelie ist hochbegabt – wie jedes zweite Kind in der Einrichtung. „Sie kann unglaublich gut und präzise über ihre eigenen Emotionen sprechen“, sagt Erzieherin Johanna Nohl. Auch Stimmungen bei anderen Menschen könne sie faszinierend präzise wahrnehmen. In der Nürnberger Kita, die vom Christlichen Jugenddorfwerk Deutschlands e.V. (CJD) getragen wird, spielen Amelie und andere „entwicklungsschnelle“ Kinder zusammen mit normal begabten Kindern aus dem Stadtteil. Hinzu kommt eine Gruppe von Kindern, die auf „Eingliederungshilfe“ angewiesen sind, weil sie in der Entwicklung zurückliegen oder Beeinträchtigungen haben. Die Mischung ist Programm: „Hochbegabte Kinder sollen nicht isoliert aufwachsen“, sagt Kita-Leiterin Beatrix Hirschbolz-Ter. „Sie sollen gemeinsam mit normal begabten und Kindern mit Eingliederungshilfe lernen, Geduld, Toleranz und Hilfsbereitschaft zu entwickeln.“
Die CJD Kita ist spezialisiert auf die Betreuung und Förderung von Kindern mit Hochbegabung. Ein Thema, bei dem das CJD bundesweit als Experte anerkannt ist. Hochbegabungen können sich in vielen Bereichen zeigen, von mathematisch über sportlich bis sozial-emotional wie bei Amelie.
Inklusive Einrichtung anstelle von Eliteschmiede
Die hochbegabten Mädchen und Jungen in der Nürnberger Kita kommen auf Empfehlung des Kinderarztes, dem zum Beispiel die ausgeprägte Kombinationsgabe oder der sprachliche Fortschritt auffällt. Erzieherinnen und Erzieher aus anderen Einrichtungen schicken Kinder, die etwa durch unstillbaren Wissensdurst herausstechen. Oder Eltern merken, dass ihr Kind anders ist als die Gleichaltrigen. Sören (3) gehört zu den jüngeren Kindern. Er bleibt als Letzter am Mittagstisch sitzen. Sören hat gerade entdeckt, dass sein Spiegelbild auf der einen Seite des Löffels richtig herum und auf der anderen Seite auf dem Kopf steht. Das fasziniert ihn sichtlich. Immer wieder dreht er den Löffel und versucht herauszufinden, warum sein Spiegelbild sich dreht. Mit seinen frech blitzenden großen Augen und den strubbeligen Haaren sieht er ein bisschen aus wie der Prototyp des kleinen Lausbuben. Sören gehört zu den hochbegabten Kindern. Schon als er im Alter von zwei Jahren zum Schnupperspielen in der Kita war, sagte er aus freien Stücken zu seinen erstaunten Eltern: „Hier gefällt es mir, hier will ich wohnen.“ Neben seiner sprachlichen Begabung sind es vor allem seine Fähigkeit, sich Dinge zu merken, und seine Wissbegierde, die auffällig sind. „Er hinterfragt ganz viele Dinge und macht sich seine eigenen Gedanken, auch über Erwachsenenthemen“, berichtet seine Erzieherin Nohl. Ein Lausbub ist der kleine Franke trotzdem. Nach dem gemeinsamen Mittagessen steht für die Jüngeren eine Mittagspause im Ruheraum an. Sören hat dafür seine eigenen Pläne: „Ich hatte geplant, dort ein wenig Quatsch zu machen, aber nur ein bisschen.“ Den Satz sagt er exakt so: Haupt- und Nebensatz, Plusquamperfekt. Aber auch wenn man die Grammatik nicht analysiert, klingt der Satz erstaunlich aus dem Mund eines Jungen, der gerade erst drei geworden ist.
Die insgesamt 60 Mädchen und Jungen sind bunt gemischt in den Gruppen Nimmersatt, Regenbogen und Dino aufgeteilt. Elf Pädagoginnen und Pädagogen, zum Teil mit Spezialausbildungen, betreuen die Kinder zwischen drei und sechs Jahren. Manche Eltern nehmen 30 km Fahrt auf sich, um ihren Kindern diesen Rahmen zu ermöglichen. „Unser Kindergarten ist aber keine Eliteschmiede, sondern eine inklusive Einrichtung“, stellt Beatrix Hirschbolz-Ter klar.
Die Meinung der Kinder ist wichtig
Hier in Nürnberg hat jedes der 60 Kinder in der CJD Kita ein Grundrecht auf eine Förderung, die seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen entspricht. Dem Kita-Team ist die Meinung der Kinder wichtig. „Wir wollen, dass die Kinder zu selbstbewussten, eigenständigen Persönlichkeiten heranwachsen“, sagt Beatrix Hirschbolz-Ter. So dürfen die Kinder die Feste, das Mittagessen und die Gestaltung der Räume mitbestimmen. Die Gruppen wählen ihre eigenen Vertreter, den Kinderbeirat, der die Wünsche der Kinder in Besprechungen vertritt.
Amelie kommt sehr gut mit allen Kindern aus. Deswegen wurde sie vom Rest der Gruppe auch in den Kinderbeirat gewählt. Der Kinderbeirat gehört zum Konzept der Kita, den Kindern eine selbstbestimmte und bedürfnisorientierte Entwicklung zu ermöglichen. Es werden richtige Wahlen abgehalten. Jedes Kind kann gewählt werden - frei, geheim und unmittelbar. Wie in der großen Politik, nur dass keine Kreuze auf Wahlscheinen gemacht werden, sondern Murmeln in Gläser geworfen werden, auf die die Fotos der einzelnen Kandidaten geklebt sind. Die jeweils drei gewählten Kinderbeiräte der Gruppen sitzen dann zusammen mit den Pädagoginnen und Pädagogen an einem Tisch und haben volles Stimmrecht. So dürfen die Kinder zum Beispiel die Feste, die gefeiert werden, das Mittagessen oder die Gestaltung der Räume mitbestimmen. Zusätzlich zum Kinderbeirat werden alle Kinder mindestens einmal im Jahr befragt, wie zufrieden sie mit der Arbeit der Pädagoginnen und Pädagogen sind und welche Wünsche und Anregungen sie haben. Die Methode dieser Befragung hat das Team entwickelt. Die Kinder entscheiden dann selbst, ob die Eltern in den jährlichen Lernentwicklungsgesprächen erfahren dürfen, was ihr Nachwuchs gesagt hat. „Ich bin überzeugt, dass Kinder ihre Bedürfnisse sehr genau kennen und auch mitteilen können“, sagt Erzieherin Nohl beim gemeinsamen Vesper, während sie sich Quark aufs Brot schmiert, den sie zusammen mit den Kindern letzte Woche selbst hergestellt hat.
Eine Kita, in der sich auch die Erzieherinnen und Erzieher wohlfühlen
„Ich freue mich wirklich jeden Tag darüber, dass ich hier einen Arbeitsplatz gefunden habe, an dem ich auf einzelne Bedürfnisse der Kinder eingehen kann.“ Die Begeisterung ist echt, das spürt man bei der Pädagogin mit spezieller Montessori- und Hochbegabten-Ausbildung. Stolz zeigt sie die Projekttagebücher, in denen sie und die Kinder dokumentieren, was sie zusammen schon auf die Beine gestellt haben. Beim Müllprojekt beispielsweise haben sie eine Wiese von Abfall befreit, eine Müllverbrennungsanlage besichtigt und einen Brief an eine Zeitung geschrieben, die dann gleich zu Besuch in die Kita kam. Die Idee zum Projekt kam von den Kindern selbst. Das aktuelle Projekt beschäftigt sich mit Fledermäusen, mit der Folge, dass sich die Kinder gerne kopfüber an die Treppengeländer hängen, um auszuprobieren, wie es sich anfühlt, eine Fledermaus zu sein. Das ist ganz im Sinne der Pädagogik des CJD. Die Kinder sollen frei forschen und experimentieren. Die Erzieherinnen und Erzieher schaffen durch ihre pädagogische Begleitung „Räume für Kinder“, in denen das für den gesamten Bildungsweg so wichtige selbst organisierte Lernen ermöglicht wird.
Ein Ort, an dem Kinder Kind sein dürfen
So weit denken die sechsjährige Amelie, der dreijährige Sören und die anderen entwicklungsschnellen Kinder der CJD Kita natürlich noch nicht. Für sie ist die Hans-Georg-Karg-Kindertagesstätte einfach ein toller Ort, an dem sie jeden Tag spannende Dinge erleben, ihr Wissensdurst gestillt wird und sie Mitspracherecht haben. Dort sind sie Kinder. Auch Amelie, die sofort merkt, wenn bei anderen Kindern etwas nicht stimmt, und die einem sehr ernst und offen ins Gesicht schaut, wenn man mit ihr spricht. Deren Antworten überlegt und ungewöhnlich reif für eine Sechsjährige klingen. Diese Ernsthaftigkeit ist aber sofort verschwunden, als ihre Freundin mit angewidertem Blick berichtet, dass ihr Stoffhase gerade gepupst hat. Schon flitzen die beiden mit zugehaltener Nase kichernd durch den Raum, um den Rest der Kinder über den Pupsvorfall zu informieren.